Der Angst den Schrecken nehmen

Unsicherheiten zulassen und lieben lernen

Viele Menschen sind ein Leben lang damit beschäftigt, unangenehme Gefühle nicht spüren zu wollen. Sie möchten keinesfalls ängstlich oder unsicher sein, nicht abgelehnt oder vereinnahmt werden, niemanden enttäuschen oder verletzen. Zudem möchten sie jederzeit erfolgreich sein, weil Misserfolg und Scheitern für sie mit großer Scham verbunden sind. Sie sind davon überzeugt, dass ihr Leben glückt, wenn sie Unangenehmes stets vermeiden. Das ist menschlich, weil unser „System“ so funktioniert, Angenehmes zu erstreben. 

Jeder Mangel im persönlichen Wohlbefinden beruht auf dem Konflikt zwischen einem seelischen Bedürfnis und einem damit einhergehenden Gefühl der Angst vor einer – meist unbewussten – alten Verletzung. Nicht die Angst selbst ist jedoch das Problem, vielmehr die Ohnmacht angesichts dieser Angst. Weil man dieses Gefühl vermeiden möchte, verhält man sich oft kontrollierend: 

  • Man gibt genauestens acht, was ein Gegenüber braucht.
  • Man wägt ab, was man ihm zeigen oder nicht zeigen kann.
  • Man versucht zu erspüren, ob und wann der andere sich abwendet.

Man glaubt also, mit solchen Kontrollhandlungen im Außen Kontrolle über die Gefühle im Innen zu bekommen. Ängste über Kontrolle zu bearbeiten bedeutet allerdings auch, sie immer wieder neu zu aktivieren. Sein Umfeld kontrollieren zu wollen, beansprucht zudem ein hohes Maß an Selbstkontrolle und verbraucht enorme Ressourcen. Wer alles kontrollieren will, hat ein anstrengendes Leben: Er ist ständig auf der Hut, muss andere beobachten, um deren Verhalten berechnen zu können. Unter diesem seelischen Druck erkennen viele oft nicht, welches ihre wahren Wünsche und Bedürfnisse sind.

Zwischen Bedürfnis und Vermeidung

Hat man nicht gelernt, sein Bedürfnissystem zu aktivieren, weil es angstbesetzt ist, lernt man, unangenehme Gefühle durch Vermeidung zu bewältigen. Mit dieser Angst-Vermeidungsstrategie ist jedoch auch klar, dass persönliche Entwicklung kaum möglich ist: „Jetzt weiß ich doch, was ich will, könnte es auch tun – und tue es immer noch nicht!“ Da Wunsch und Angst miteinander verbunden sind, behält das Vermeidungssystem die Oberhand. Setzt man aber darauf, kompetenter im Umgang mit Unsicherheit und Risiko zu werden, kann man freier in der Erfüllung seiner seelischen Bedürfnisse werden.

Ob Angst ein Problem ist, hängt davon ab, was man aufgrund seiner Prägung gelernt hat, für bedrohlich zu halten. Es spielt somit eine große Rolle, ob man etwas als Risiko oder Gefahr verinnerlicht hat oder nicht. Wenn ja, droht jedes Verhalten, welches aus dieser Bewertung heraus beeinflusst ist, die Vergangenheit in der Gegenwart neu zu beleben.

In der dauernden Vermeidung von Angst baut man innerlich Stress auf: Wenn Angst nicht sein darf, bekommt man Panik vor dem Gefühl der Angst, das sich verstärkt und zur Verkrampfung führt. Umgekehrt bedeutet dies jedoch auch: Wo Raum und Platz ist für Angst, wo man sich das Gefühl der Angst erlaubt, ist sie eben „da“. Man macht das, was man tut – mit Angst. Angst ist ein Zustand, den die einen als „normal“ empfinden, während die anderen ihn als etwas erleben, das man besser meidet.

Angst lieben lernen

Wer sich vorwiegend im Leben damit beschäftigt, seinen inneren Konflikten auszuweichen, lebt anders als jemand, der trotz und mit aller Angst versucht, das zu bekommen, was er sich gefühlsmäßig wünscht. Angst ist ein gleichwertiges Gefühl neben Freude, Trauer, Lust, Schmerz und anderen Empfindungen. Im Veränderungsprozess eines Menschen ist es deshalb wichtig, Angst weder abzuwerten noch sich von ihr leiten zu lassen und sich vielmehr fürsorglich zu fragen: Was braucht diese ängstliche Seite vielleicht von mir? Der Angst den Schrecken nehmen bedeutet, sich ihr liebevoll zuzuwenden, statt sie zu unterdrücken – und mit ihr gut leben zu können.


Seine Angst zuzulassen, sie zu lieben und ins Leben zu integrieren – das kann eine große Herausforderung sein. Mithilfe professioneller Unterstützung kann man lernen, unangenehme Gefühle wahr- und anzunehmen und dann zu erforschen, wie sie sich auflösen können, um sicherer im Umgang mit Unsicherheiten zu werden und sich schließlich selbst zu befreien.