Schuld abschieben statt Selbstverantwortung übernehmen

Von der inneren Not, die Menschen manipulieren lässt

Es erfordert Neugier und Mut, sich mit den eigenen negativen Emotionen ehrlich auseinanderzusetzen, denn oft ist dies mit großem Unbehagen verbunden. Das Erforschen unangenehmer Gefühle kann schließlich die Erkenntnis zutage fördern, dass die eigene Vergangenheit längst nicht vergangen und in der Gegenwart immer noch wirksam ist. Statt sich dem zu stellen, greifen manche Menschen auf Bewältigungsstrategien zurück: Sie schieben die Schuld für ihre Empfindungen ab und manipulieren ihr Umfeld so, dass sie ihren Schmerz nicht spüren müssen.

Manipulation – der Versuch, die Kontrolle zu behalten

Abwehrmechanismen wie Schuldzuweisungen oder emotionale Erpressungen können einem Menschen kurzfristig Erleichterung verschaffen. Sie befreien ihn von der Schwierigkeit, sich mit sich selbst näher beschäftigen zu müssen. Auf Dauer können sie ihn jedoch hindern, sein Handeln und Erleben wirklich zu verstehen und Selbstverantwortung zu übernehmen. Die Manipulationsmechanismen sind meist ein Impuls, gegenwärtig die Kontrolle zu behalten und damit Druck auszuüben.

Indem man die Schuld für seine Kränkung bei anderen sucht, verschiebt man den Fokus nach außen. Das ist auch einfacher: Man lenkt von sich ab, anstatt die Chance zu nutzen, sein Inneres wirklich zu spüren und Verantwortung für den eigenen Anteil und sein seelisches Wohlbefinden zu übernehmen. Die andere Person soll sich möglichst so verhalten, dass man selbst keine schmerzlichen Gefühle aushalten muss. Diese Vermeidungsstrategie führt dazu, letztlich in den gleichen Verhaltensmustern ein Leben lang stecken zu bleiben – eine Art des Versagens im Umgang mit sich selbst. Der implizite psychologische Prozess, in der Fachsprache Beziehungsverklammerung[1] genannt:

[1]metatheorie-der-veraenderung.info/wpmtags/beziehungsverklammerung/

  1. Der Reiz: „Weil du …“
    Ein Mensch bzw. das Gegenüber zeigt ein spezifisches Verhalten.
     
  2. Die emotionale Reaktion darauf: „bin ich, muss ich …“
    Man reagiert unmittelbar mit einem bestimmten Gefühl oder einer Verhaltensweise.
     
  3. Die Fremdmanipulation: „Deshalb sollst du …“
    Und versucht nun, den anderen zu einem Verhalten zu bewegen, das vermeintlich besser empfunden wird.
     
  4. Die Stabilisierung: „Damit ich mich …“
    Dies ermöglicht, sich wieder so zu fühlen, wie es angenehm ist.
     
  5. Das Abgewehrte: „Denn sonst würde deutlich werden, dass …“
    Man möchte mit den eigenen, unangenehmen Gefühlen nicht konfrontiert werden.

Wenn man auf Manipulation verzichten und sich selbst reflektieren würde, könnte deutlich werden, welcher Schmerz in einem verborgen und wie wenig man darin geübt ist, mit seinen Gefühlen auf eine kompetente Weise umzugehen. Am Ende zielt der gesamte Prozess darauf ab, ein tief sitzendes, unbewusstes, verleugnetes oder verdrängtes Erleben unverändert zu lassen: „Sonst würde deutlich werden, dass …“.

Dazu ein Beispiel aus der Praxis zur Veranschaulichung:
Weil du
nicht offen und ehrlich bist und kein Vertrauen hast, bin ich zutiefst gekränkt. Deshalb sollst du ein schlechtes Gewissen haben und dich entschuldigen, damit ich mich wieder wichtig und wertvoll erleben kann. Denn sonst würde deutlich werden, dass ich keine Bedeutung habe – und das will ich nicht spüren.

Die innere Not, die Manipulationen antreibt, ist häufig das Resultat von nicht verheilten emotionalen Wunden. Die Manipulation entsteht somit aus einem inneren Mangel: vielleicht wie ein Mensch, der in seiner Kindheit vernachlässigt wurde und heute nach Wegen sucht, Kontrolle in Beziehungen zu gewinnen, statt sich mit seinen negativen Gefühlen zu beschäftigen.

Eine unbewusste innere Not als Beweggrund

Dieses Verhaltensschema macht eine Unfreiheit deutlich: Man macht sein emotionales Wohl von spezifischen Verhaltensweisen anderer Menschen abhängig und bringt sich in die Lage, sie zu einem erwünschten Verhalten (durch Bestrafen, Belohnen) manipulieren zu müssen. Leider macht man so aber auch nicht die gute Erfahrung, dass jemand freiwillig und gern auf eigene Wünsche eingeht. Diese Dynamik ist ein Hinweis darauf, dass man für sich keine Verantwortung übernimmt. Selbstverantwortung setzt jedoch die Kompetenz zur Selbstreflexion voraus.

Glaubt man erst einmal, dass das eigene Wohlbefinden vom Verhalten anderer abhängt, kann man sich im Leben natürlich auch so aufstellen, dass die anderen so sind, wie man sie braucht. Die Suche nach dieser „idealen Umwelt“ kann Menschen ein Leben lang beschäftigen. Sie kann immer wieder Auslöser für Frustration sein, wenn die Welt nicht das liefert, was man von ihr erwartet. Oftmals ist den Menschen, die manipulieren, ihr Handlungsmuster gar nicht bewusst. Sie handeln aus einer emotionalen Not heraus, ohne zu erkennen, was sie sich und anderen damit antun.

Selbstreflexion stärkt die persönliche Unabhängigkeit

Die Auseinandersetzung mit sich selbst ist der Schlüssel zu mehr Freiheit und Unabhängigkeit, auch vom Verhalten anderer. Die Selbstreflexion beginnt damit, sich des eigenen Anteils bewusst zu werden – warum etwas so aufwühlt, verletzt, aggressiv oder traurig macht. Wer nicht erkennt, dass er selbst der Erzeuger seiner Gefühle ist, bleibt in der Abhängigkeit davon, dass andere ihm unerwünschte Emotionen „verursachen“ können.

Folglich bleibt nur die Wahl, weiterhin darunter zu leiden oder die eigene innere Not zu bearbeiten, die dieses Verhalten auslöst. Erst dann können echte Bedürfnisse auf gesunde Weise kommuniziert und erfüllt werden – was schließlich zu einer tieferen Verbindung mit sich selbst und anderen führt.


Das Scheitern von Beziehungen ist oft auf einen Mangel an Selbstverantwortung zurückzuführen. Wer sich jedoch mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen beschäftigt und bereit ist, die Verantwortung dafür zu übernehmen, ebnet den Weg für persönliches Wachstum. Er stärkt seine innere Unabhängigkeit und verbessert auch die Qualität seiner Beziehungen.

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